Von Nonsens und jungen Menschen, die kein TV mehr schauen

Dieser Artikel wurde zuerst am 14.10.2016 auf der Webseite der W&V veröffentlicht.

Zurück aus der „Südsee“ bin ich mit etwas Verspätung über das Youtube Video zur Perspective Debate auf der diesjährigen Dmexco gestolpert. „Digital is everything! Or are we stuck in Buzzword-Bingo?“, lautete das Thema. Und ich musste schmunzeln als gleich zu Beginn des Panels die Herren Baron (pilot), Justus (google) und Ott (facebook) erst mal ein schönes Glas Müllermilch eingeschenkt bekamen. Die Vorlage des Moderators für die Diskussion war somit vielversprechend. Dass ich fälschlicherweise direkt zum CMO „befördert“ wurde, darüber sehe ich angesichts der gelungenen Anmoderation gerne hinweg. Doch aus meiner Sicht allzu schnell wurde meine provokative Einlage zum digitalen Zirkus in der WuV mit einem Satz als „Nonsens“ vom Tisch gewischt. Philipp Justus: „I don´t believe any of what he [Christian Meyer] said actually makes sense. I think it´s complete nonsens in 2016 to dispute the value of digital.“ Ob Herr Justus oder einer der anderen Herren meinen Brief tatsächlich gelesen haben? Sicher bin ich mir da nicht.

Mobile überholt TV?

Ott argumentiert, dass die Milliarden an Menschen auf der Welt uns jeden Tag zeigen, dass das Leben digitaler wird. Richtig. Punkt. Seiner Meinung nach sieht man das aber im Besonderen daran, dass junge Menschen kein TV mehr schauen und Mobile zwischenzeitlich TV überholt hat: „(…) And you see it particularly on mobile. Mobile is overtaking TV. (…) Now you have young people they don´t even watch TV anymore.“ Ich lasse mich jetzt nicht dazu hinreißen das vorschnell als Nonsens abzustempeln. Auch, da ich nicht weiß, welche Studien Ott zugrunde legt. Studien zur Sehdauer kann Kollege Ott jedenfalls nicht gemeint haben. Die zeigen nämlich ein anderes Bild. Nun, Facebook tut sich in letzter Zeit ja ohnehin mit der Sehdauer ein wenig schwer. Da verschätzt man sich bei der Erhebung der durchschnittlichen Viewtime tatsächlich um 60% – 80%. Oha. Jetzt aber den schwarzen Peter nur Facebook zuzustecken ist falsch: Werbungtreibende sind ebenso gefordert, Erhebungsmethoden zu Hinterfragen und auf ihre Sinnhaftigkeit zu prüfen. Wer unreflektiert einbucht, der darf sich eben nicht wundern.

Es liegt somit nahe, dass Ott auf die Entwicklung der Werbeausgaben anspielt. Es stellt sich die Frage, ob aus der Sicht eines Werbungtreibenden die Betrachtung der Werbeausgaben für die Mediaplanung und Budgetallokation aufschlussreich ist? Und: Ob die Gefahr besteht, Äpfel mit Birnen zu vergleichen?

Betrachtet man die Werbeausgaben in den Märkten USAUK und Deutschland für das Jahr 2015, ist die Gattung Digital tatsächlich in allen Märkten das stärkste Medium im Media-Mix. In UK werden sogar über 50% der Werbeausgaben der Gattung Digital zugeordnet. Das klingt aufregend, erfordert aber eine differenzierte Betrachtungsweise um eben nicht Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Reduziert man beispielsweise in UK die ausgewiesenen Billings um den Anteil von Search (ebenfalls über 50%), ergibt sich im Vergleich zu TV bereits ein anderes Bild. Wenn schon ein Vergleich der Werbeausgaben, müsste dann nicht am ehesten die Kategorie Onlinebewegtbild auf mobilen Endgeräten mit TV verglichen werden? Hoppla, in UK beträgt der Anteil der Werbeausgaben für die Kategorie Video auf mobilen Endgeräten in 2015 gerade einmal 4%.

Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Aspekt, der das Risiko falscher Rückschlüsse mit sich bringt, ist die zugrunde gelegte Währung im Sinne einer Brutto – Netto Betrachtung: Attestiert eMarketer der Gattung Digital auf Basis der Werbeausgaben in Deutschland einen Anteil im Media-Mix von rund 28% (TV: 25%), beschreibt der ZAW für 2015 auf Nettoebene ein anderes Bild. Demnach ist TV mit 29,1% stärkstes Medium und Print kommt in der Kumulation mit Tageszeitungen auf 24,5% und liegt damit sogar noch deutlich vor Online mit 9,4%. Fairerweise muss man hinzufügen, dass die Onlinewerbeausgaben vom ZAW unter anderem exklusive Suchmaschinenmarketing erhoben werden.

Die Beispiele zeigen, wie wenig aufschlussreich die verschiedenen Statistiken zu den Werbeausgaben auf den ersten Blick letztlich sind und wie wichtig eine differenzierte Betrachtung ist. „Mobile overtakes TV and desktop spending in 2016“ ist als Headline nicht falsch. Hieraus jedoch abzuleiten, TV funktioniere nicht mehr oder junge Menschen schauen kein TV mehr, kann ich nicht nachvollziehen.

Mobile und der Bewegtbildkonsum

Die weitaus wichtigere Frage ist: Hat Mobile im Bereich der Bewegtbildnutzung TV überholt? Wenn Ott also Mobile als Kanal für die Schaltung von Werbespots empfiehlt, ist die Sehdauer aufschlussreich.

In Deutschland entfallen laut dem von SevenOne Media herausgegebenen View Time Report derzeit 93% der Bewegtbildnutzung auf TV (E14+). Das entspricht 254 Minuten pro Tag. Dem gegenüber stehen 13 Minuten für kostenlose Onlinevideo Nutzung. Bevor der kritische Leser jetzt eine gewisse und durchaus nachvollziehbare Skepsis ob des Herausgebers – immerhin eines der beiden großen TV Häuser – reklamiert: Nielsen attestiert in den USA ein durchaus ähnliches Bild. So betrug die TV-Nutzung (Live + DVR) im ersten Quartal 2016 in der Zielgruppe E18+ 31 Stunden und 26 Minuten pro Woche, während die Video Nutzung auf Smartphones gerade einmal 23 Minuten und somit ca. 1% ausmachte. In der jungen Zielgruppe 18-24 bringt es Mobile Video immerhin auf knapp 5%, bleibt damit aber ebenfalls weit hinter TV (ca. 85%) zurück. An welcher Stelle hat Mobile TV jetzt gleich noch mal überholt? Handlungsbedarf beispielsweise bei der Allokation von Mediabudgets ergibt sich angesichts der Zahlen im Moment nur wenig.

Diskussion zu Rolle und Beitrag digitaler Media wünschenswert 

Bob Hoffman hat in seinem Artikel „Death Of TV Continues Not To Happen“ aufgezeigt, dass der TV Konsum auch im digitalen Zeitalter bemerkenswert stabil ist. Es sind Verbreitungswege und Nutzungsformen, welche sich ändern. Meine Frage an der Stelle: Wie machen wir das zukünftig messbar?

Lieber Herr Justus, lieber Herr Ott und lieber Herr Baron, müssen wir nicht tief-gehender und selbstkritischer diskutieren?

In den USA wurden im ersten Quartal 2016 52% der TV-Minuten von den Top 20% der TV Nutzer gesehen, während sich die Top 20% der Smartphone-Nutzer für 87% der Mobile-Video Minuten verantwortlich zeichnen. Was bedeutet das eigentlich unter Gesamt-Reichweitenaspekten? Welchen Beitrag kann ein Big Player wie Youtube angesichts einer täglichen Nutzung von 6 Minuten leisten? Und in dem Zusammenhang: Ist inkrementelle Reichweite heutzutage tatsächlich schon mess- und somit planbar? Können Spots, die ohne Ton laufen und deren Sichtbarkeit in Frage gestellt werden darf, tatsächlich genauso gut wirken wie TV – Streuverluste hin oder her? An der Stelle wäre mir persönlich eine Auseinandersetzung mit der Forschungsmethode lieber, als eine rein oberflächliche Ergebniszusammenfassung. Und last but not least: Wirkt sich Multi-Screen-Nutzung tatsächlich immer nur negativ auf TV Wirkung aus? Warum gilt dies eigentlich nicht umgekehrt?

Fazit: Es gibt noch viel zu diskutieren.

Wer sich die Mühe macht, genauer hinzuschauen, stellt fest, dass in der aktuellen Diskussion viele Fragen noch nicht beantwortet sind oder vermeintliche Antworten unbefriedigend ausfallen. Die jüngsten Erhebungen zeigen, dass Digitale Media und damit auch Onlinebewegtbild – zumindest derzeit – noch keine vollständige und zufriedenstellende Lösung für schwindende TV-Reichweiten und Werbeeffektivität bietet. In meinem Artikel „Digital is everything?“ (und im Übrigen auch bereits in meinem offenen Brief) reklamiere ich die zunehmenden Effektivitätseinbußen des werbefinanzierten Fernsehens, auf die Werbungreibende reagieren müssen, und challenge mit der Frage, welche Rolle digitale Medien bei der Lösung spielen? Es liegt nahe, zum Beispiel Pre-Rolls als Kompensation für die schwindenden TV Reichweiten einzusetzen. Wie groß allerdings der Kompensations- und Wirkungsbeitrag ist, darüber müssen wir sprechen. Hinzu addiert sich die Fülle an Qualitätsvorbehalten.

Dies zu diskutieren wäre spannender gewesen, als Digital ein weiteres Mal als Allheilmittel zu propagieren: „Junge Menschen schauen kein Fernsehen mehr, also müssen wir Pre-rolls machen.“, höre und lese ich sehr oft – wie auch die Aussage von Ott in der Paneldiskussion unterstreicht. Und das ist meines Erachtens tatsächlich Nonsens. Mit gut 38% waren laut AGOF die 30-49-jährigen im Juni diesen Jahres im Übrigen die weitaus größere Zielgruppe im Internet, als die jungen 14-29-jährigen. Schauen die auch kein TV mehr? Dann können wir ja getrost abschalten.

Um Werbungtreibende vom digitalen Distributionskanal für bewegte Werbebotschaften zu überzeugen, sind Transparenz und Vertrauen ein wichtiger Schritt. Meldungen zur falschen Erhebung der Viewtime sind da wenig vertrauenerweckend. Eine kritische Auseinandersetzung ist essenziell. Was eine spannende Diskussion hätte werden können, ist leider an der Oberfläche stecken geblieben. Schade, vielleicht im nächsten Jahr.

2 Gedanken zu „Von Nonsens und jungen Menschen, die kein TV mehr schauen

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